Teodoro Anzellotti - Sequenza XIII (Chanson) für Akkordeon
 

„Ich mag kein lautes Akkordeon, das wie Bahnhof klingt” (Berio).

Das Akkordeon hat eine reiche Tradition verschiedenster Verwendung und mit daraus resultierenden Klangtypisierungen. Nicht überall assoziiert man, wie hierzulande, bei seinem Klang Einfältigkeit. In den neapolitanischen Lieder, den Tangos und Milongas Argentiniens oder den französischen Chansons verleiht es jenen zart verhangenen Unterton, gibt es sich als Sprachrohr einer feinen Melancholie. Luciano Berio, der aus der italienischen Region Imperia, unweit der französischen Grenze stammt, mag diesen Klang.Sein Bemühen, auch das idiomatische Vermächtnis spezifischer musikalischer Milieus einzubinden, zu erweitern und zu transformieren - ohne Scheu oder Abgrenzung von der Popularmusik -, signalisiert Berio mit dem Titel chanson .

Instrumentaltechnisch wird neben dem üblichen linken Manual des Konzert-Akkordeons, mit den chromatisch angeordneten Einzeltönen vom Kontra-E zum cis4, auch das fast ausschließlich in der Unterhaltungsmusik verwendete Akkord-Manual mit einbezogen. Bei diesem wird durch einen Knopf- der die einzelnen Töne zu Dur- , Moll-, Septimen-, oder verminderte Septimenakkorde koppelt - Harmonien auslöst. Die spieltechnische Beschäftigung mit diesem Manual scheint zunächst wenig einladend, da die Akkorde für lapidare Begleitformeln präformiert sind und zur leichteren Ausführung günstig angeordnet werden. Hingegen ist es spieltechnisch äußerst kompliziert, unübliche Akkordfolgen zu verwenden oder die standarisierte Harmonik zu durchbrechen. Durch bestimmte Schichtungen und Kombinationen der vorgegebenen Akkorde - wie sie nur mit einem Akkordeon realisierbar sind - werden ungeahnte Schattierungen, interferierende Schwingungen und klangfarbliche Prozesse von neuartigen Kolorit freigesetzt.

Berio bevorzugt die leisen Töne, kultiviert die zarten Nuancen. Extrovertierte Virtuosität steht nicht im Vordergrund, vielmehr wird dem Spieler eine präzies-virtuose Kotrolle der instrumental-klanglichen Gesten abverlangt.

Den inneren Kern von der Sequenza XIII bildet eine Reihe von elf Tönen. Diese melodische Zelle mit charakteristisch absteigenden Quarten wird in vielgliedrigen phantasievollen Figurationen quasi endlos entwickelt und durch ständiges Verknüpfen unterschiedlicher Prozesse in gegenseitige Beziehung gebracht. Durch Überlagerung verschiedener Tempi oder wiederholte Einflechtung in die vielfältige Akkordik der linken Hand wird das „Lied” in immer wieder neue Klang-Räume geführt, verschmolzen, verwandelt oder kontrastiert.

Durch die Verwendung des Akkordwerks - das nur zwischen e und dis 2 erklingt - ergibt sich eine vorherrschende Klanglichkeit der weichen Mittellage, in der auf Dauer die genauen Grenzen immer mehr verwischen. Die Beobachtung des Spielablaufs ist für Berio immer wieder Auslöser für die Entwicklung spieltechnischer Neuerungen, wobei die Beziehung zwischen dem Musiker und seinem Instrument in Sequenza XIII kompositorisch indirekt thematisiert wird. Die Nähe des Akkordeonisten zum Instrument und die damit zusammenhängende Körperlichkeit gestaltet Berio zu einer Verschmelzung und fließenden Wechselbeziehung zwischen Sprachton und Instrumentalklang. Es entstehen entrückte, eigensinnig „ fremde Szenen”.

Die Sequenza XIII wurde im Auftrag der Kunststiftung Rotterdam im Oktober 1995 in einer Erstfassung für Teodoro Anzellotti geschrieben und von ihm am 9. November 1995 uraufgeführt. Die revidierte und endgültige Fassung entstand für die Wittener Tage für neue Kammermusik im April 1996.

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