Teodoro Anzellotti sichert dem Akkordeon Aufsehen,
zum Beispiel am 20. Davos Festival 2005
   
 

Das Akkordeon

Kann man ein Instrument neu erfinden, das es schon gibt?
Man kann. Anhand des Akkordeons, dieses Jahr „Star of the Instruments” bei der Jubiläums-Ausgabe des Davos Festivals, hat Teodoro Anzellotti gezeigt, wie das geht.

Michael Eidenbenz

   
 

Um zu präzisieren: Zu erfinden im Wortsinne gab es nichts mehr. Das Instrument war entwickelt, es ging nicht um zusätzliche instrumentenbautechnische Schikanen. Aber es galt, für das Akkordeon eine neue Musik zu entdecken und das Akkordeon für die Neue Musik zu entdecken. Das hat Teodoro Anzellotti in der Tat mit einer Gründlichkeit getan, die in der neueren Musikgeschichte unvergleichlich ist. Die Liste der Komponisten, denen er im Laufe seiner Karriere Musik für sein Instrument entlocken konnte, sei es durch direkte Aufträge, sei es durch inspirierende Anregung, liest sich wie ein Who's who der zeitgenössischen Musik. Von A wie Georges Aperghis bis Z wie John Zorn sind sie alle vertreten, Klassiker der Moderne ebenso wie aufblühende Jungtalente.

Wie kam es dazu? Anzellottis Geschichte und damit die jüngere Geschichte des Akkordeons ist ein geradezu prototypisches Beispiel dafür, wie aus der Not eine Tugend zu machen ist, wie der Mut, Türen aufzustossen, unerwartete Schätze ans Tageslicht bringen kann, die gleichsam nur auf ihre Entdeckung gewartet zu haben scheinen. Anzellotti kam als Sohn apulischer Immigranten nach Deutschland. Der Vater schon spielte Akkordeon, war gefragt als Begleiter fröhlicher wie trauriger Festlichkeiten. Das Instrument ging an den Sohn weiter, dieser erwies sich als begabt, gewann „Jugendmusiziert”-Wettbewerbe und entschied sich schliesslich zum Berufsstudium. Dort gehörte er zunächst zu den Exoten: „Das Prestige des Akkordeons erreichte damals nicht mal jenes der Blockflöte oder des Saxofons. Während die Säle bei den Vortragsübungen der Pianisten und Geiger voll waren, erschienen bei den Akkordeonisten höchstens Freunde und Verwandte.” Es erschien aber auch, was entscheidend wurde, dann und wann der eine oder andere neugierige Kompositionsstudent.

Die Neugier erwies sich als gegenseitig: „Ich merkte schnell, dass ich mit den komponierenden Kollegen anders über Musik reden konnte. Da ging es nicht nur um Interpretationsnuancen, um Tempi und Metronomzahlen, sondern um Sinn und Inhalt des Musizierens.” Die gemeinsame Neigung, „in Musik zu denken und zu arbeiten”, erwies sich als inspirierend. „Ich dachte mir: Wenn ich meinen Traum verwirklichen will, dem Akkordeon zu neuem Ansehen zu verhelfen, so muss ich es aus seiner Bindung an die Volks- und Kommerzmusik befreien. Das Instrument braucht also etwas Wesentliches, etwas Anspruchsvolles, Elitäres. Kurz: Ich wollte Originalliteratur von den besten Komponisten von Leuten wie Lachenmann oder Kagel.” Und so - Anzellotti hatte sich inzwischen an den einschlägigen Festivals von Darmstadt bis Donaueschingen kundig gemacht - erweiterte sich allmählich der Kreis von den komponierenden Hochschulkollegen bis zu den Grossen der Szene. Natürlich reagierten viele von ihnen zunächst irritiert. „Es kamen manchmal seltsame Kommentare, Verwunderung, Ironie. Aber zuletzt haben sie dann doch die Stücke geliefert und dabei nicht selten ihre anfängliche Distanz gleich mit komponiert.”

In der Tat kann und will das Akkordeon den spezifischen „Geruch” seiner volksmusikalischen Herkunft auch in den avantgardistischsten Experimenten nie ganz verleugnen. Zu einem Klassiker der neuen Literatur ist beispielsweise Luciano Berios „Sequenza XIII (Chanson)” geworden. „Berio liebte die feine Melancholie, die in der neapolitanischen, französischen oder argentinischen Akkordeon-Tradition mitschwingt, und hat sie in die ‹Sequenza› einfliessen lassen - allerdings ohne im Geringsten irgendwelche Klischees zu bedienen.” So verwendet er etwa zu Beginn des Stücks ein „Chanson”, das zwar erfunden und, wie Anzellotti sagt, „streng konstruiert” ist, das aber gleichzeitig die Erinnerung an die Akkordeon-Herkunft wach hält, während es in der Fortsetzung dann in intuitiv gefundene rhythmische und harmonische Prozesse gebunden wird, die dem Instrument weniger extrovertierte Virtuosität als leise Töne und feine klangliche Schattierungen entlocken. Berios „Sequenzen” für diverse Solostimmen sind Referenzstücke der zeitgenössischen Solo-Literatur geworden. Dass er auch das „Schmuddelinstrument” Akkordeon mit einer solchen Krönung bedachte, war, wie sich Anzellotti erinnert, für Berio selber eine besondere Freude.

Die Zeiten haben sich seit den Anfängen geändert. War damals das Akkordeon in der Neuen Musik praktisch inexistent, so scheint es heute geradezu zu einem Liebling der Szene geworden zu sein, die dankbare Effekte wie ausgehaltene zirpende Töne, geräuschhaftes Brummen oder das leere „Atmen” des Balges gerne verwendet. Von solchen billigen Reizen hält Anzellotti nichts, solange sie bloss klischeehaft verwendet werden. Doch er beurteilt die gegenwärtige Situation absolut positiv als aussichtsreichen Moment des Kennenlernens: „Dass all die Effekte ausprobiert werden, heisst ja auch, dass noch viel passieren kann, das Potenzial ist riesengross. Auch für mich bringt jeder Tag, jedes Stück, jedes Konzert, jede Aufnahme neue Begegnungen mit dem Instrument, und ich entdecke fortwährend Dinge, die ich früher für unmöglich oder für geschmacklos und verboten gehalten hätte. Die Entwicklung der Literatur braucht Zeit. Schon damals, während meines Studiums, fühlte ich mich wie ein Taschenspieler, der über zehn Jahre im Keller viele Stunden übt, um dann später seine Tricks öffentlich zu präsentieren. Warten und üben, üben…”

Der richtige Zeitpunkt ist abzuwarten. Das gilt für die Entwicklung im Grossen wie für die einzelnen kreativen Schritte. So liess Anzellotti beispielsweise etliche Jahre verstreichen, ehe er sich traute, Wolfgang Rihm um eine Akkordeon-Komposition anzugehen. Den Komponisten kannte er zwar seit Studienzeiten in Karlsruhe. „Seine Analysekurse waren unglaublich faszinierend. Wie er über Beethoven und Scarlatti gesprochen hat, war unkonventionell, höchst intelligent und jenseits der üblichen Theorielehrer-Art. Mein Respekt vor ihm ist riesengross, deshalb habe ich mich lange nicht getraut, ihn um ein Stück anzufragen.” Schliesslich entstand 2002 aber doch „Fetzen” für Streichquartett und Akkordeon. Ein Werk, in dem Rihms Faszination für Energiezustände, für Extreme und für das Verschieben von Klangmassen sich in geradezu körperlicher Präsenz Raum verschafft. „Wolfgang Rihms Fantasie entzündet sich oft an Klängen und Instrumenten, die in der Tradition eine Geschichte entwickelt haben. Darum brauchte er wohl auch selber Zeit, um sich mit dem unbekannten Akkordeon anzuvertrauen. Sein Komponieren steht im Bewusstsein für ein Kontinuum, das sich in der Zeit nach hinten orientiert und nach vorne ausstrahlt. In diesem Kontinuum leben und arbeiten wir ja letztlich alle.”

Und in diesen Zeitfluss von der Vergangenheit zur Zukunft gehören schliesslich auch die zahlreichen Bearbeitungen älterer Musik, die Teodoro Anzellotti gespielt und selber hergestellt hat. Auch sie dienen ihm nicht bloss zur Repertoireerweiterung, sondern werden als schöpferischer Akt der Verwandlung verstanden. Nicht um Imitation geht es, sondern um die Suche nach dem idiomatischen AkkordeonKlang anhand des vorgegebenen Materials. Dabei berühren und beeinflussen sich Vergangenheit und Gegenwart auf befruchtende Weise. Und dies wiederum ist zentral für Anzellottis Verständnis des Musikerberufs überhaupt: „Jeder Pianist spielt das Standardrepertoire zwischen Mozart und Brahms interessanter, wenn er auch Erfahrungen mit Stockhausen, Ligeti oder anderen gemacht hat. Denn die Wahrnehmung muss aktuell bleiben. Das sage ich auch meinen Studenten: Perfektion und tadellose Technik reichen nicht aus. Zu einem modernen Musiker gehört unbedingt, dass er auch auf seine Umgebung inspirierend wirkt.” Gelingt dies, kann es also durchaus sein, dass sich bereits Bestehendes erneut erfinden lässt. Teodoro Anzellottis Akkordeon hat es vorgemacht.

   
 
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