Komponist und Werk: Mauricio Kagel
   
  Der Akkordeonist Teodoro Anzellotti im Gespräch mit Wolfgang Eschenbacher
   
 

E:
Herr Anzellotti, Sie nehmen seit Jahren in der musikalischen Avantgarde einen festen Platz ein, Sie sind regelmäßig bei Veranstaltungen ein gefragter Akkordeonist und führen schwierigste neue Werke auf. Zahlreiche Kompositionen für Akkordeon verdanken Ihnen die Entstehung, ihre Uraufführung und auch CD-Einspielung.

Es ist doch sicher sehr anstrengend, ständig neueste Kompostitionen einzustudieren, vor allem sich mit den neuen Ideen heutiger Komponisten auseinanderzusetzen? Macht es auch Freude?

A:
Mit immer neuen Ideen unterschiedlicher Komponisten konfrontiert zu sein, heißt für mich, immer wieder in die Schule zu gehen, immer weiter lernen zu dürfen, und dies kann man nur von anderen und von Unbekanntem. Jede Komposition, die ich erhalte, hinter der eine Person mit eigener unverwechselbarer Kraft steht, ist für mich ein Geschenk, worüber ich mich freue und dankbar bin. Vor kurzem spielte ich die Uraufführung der „Sequenza XIII” von Luciano Berio. Die Umstände waren schwierig, nur zwei Wochen Einstudierungszeit, höchste Erwartungshaltung, große Entfernung zum Komponisten und deshalb zusätzlich mühseliges Reisen, usw. Doch kann ein Musiker heute mehr beschenkt werden als durch ein solch wunderbares neues Meisterwerk? Vinko Globokar z.B., der immer wieder versucht, Grenzen zu überwinden, schrieb „Dialog über Luft”, das mir zu Beginn streckenweise utopisch erschien. Doch die präzise Vorstellung des Komponisten und das genaue Wissen um die schwierigen Passagen und das evt. punktuelle scheitern und des damit resultierende spezielle Ergebnis gaben mir die Zuversicht und Begeisterung, mich auf diese abenteuerliche Reise einzulassen, und das Resultat ist eine klanglich und instrumentaltechnische Erweiterung der Möglichkeiten und gehört fortan zu meinem Repertoire. Auch die Zusammenarbeit mit Heinz Holliger bei der Einstudierung von „Beiseit”, die mir eine bis dahin unbekannte Arbeitsintensität von ca. neun Stunden ohne Pause bescherte, war eine außergewöhnliche Zeit. Anstrengend aber äusserst passioniert und wie ein baden in Musik.

Selbst in dem ganz unvirtuos wirkenden Stück von Dieter Schnebel wird dem Interpreten viel abverlangt. Die ersten zwei Seiten mit den vertrakten Akkordketten in der linken Hand und den im freien Metrum darüberliegenden Linien der rechten Hand erfordern Ausdauer, darüber nachdenken und analysieren, Lösungen finden. Das Resultat entschädigt für die Arbeit vielfach. Man erfährt eine bis dahin noch nie gekannte Sonorität und Qualität des Klangflusses. Eine neue Körperlichkeit mit dem Akkordeon tut sich auf und diese Endeckung gibt einem viel Freude.

Ich denke, daß gute Musik, alte wie neue, fast immer eine spezifische Technik und musikalische Ansicht abverlangt und man dafür eine gewisse Abenteuerlust mitbringen muß, um tief in sie einzudringen. Ein Pianist z.B. arbeitet an seiner Technik, um eine sichere Interpretation der großen und interessanten Klavierliteratur zu liefern, und nicht als Selbstzweck, ohne sich um die Frage zu scheren, wozu sie dienen könnte. Mich würde Üben langweilen wenn ich Stücke erarbeiten sollte, die im Stil irgendeiner Neo-Richtung komponiert wären - was beim Akkordeon ziemlich oft anzutreffen ist - und die, bei Wettbewerbsliteratur oft, nur vordergründig auf technische Heldentaten abzielen.

E:
Wie gestaltet sich eine solche Zusammenarbeit z.B. mit Komponisten, die noch nie für Akkordeon geschrieben haben: fragen Sie gezielt bei Ihnen an, oder ergibt sich da eher eine Ansprechmöglichkeit bei Konzerten und Avantgarde-Festivals?

A:
Der Auslöser zu einem gemeinsamen Projekt kann sehr unterschiedlich sein. Das kann, wie Sie vermuten, eine Anfrage von mir sein, wie das zu Beginn meiner Laufbahn eher der Fall war. Heute habe ich meist bestimmte programmatische Ideen und suche gezielt Komponisten aus, von denen ich denke, sie kommen dafür in Frage. Es gibt auch oft den umgekehrten Fall, daß Komponisten mich um eine Zusammenarbeit bitten. Spontanes Interesse entsteht nach Konzerten. Viele Stücke sind so entstanden. Aber auch andere Musiker und Veranstalter spielen eine Rolle.

E:
Nun interessiert mich insbesondere Ihre Zusammenarbeit mit Mauricio Kagel, den Sie ja schon über eine längere Zeit gut kennen. Wie kam die Bekanntschaft zustande?

A:
Das war so ein Fall, wo einige Musiker mich für eine konzertante Aufführung 1990 von „Variete” in Wien, Berlin und Frankfurt empfohlen hatten.

E:
Wie verlief diese Verbindung weiter?

A:
Von da an bat mich Kagel immer wieder, den Akkordeonpart von „Variete” und „Tango aleman” in verschiedenen Ensembles zu übernehmen. Das müßten etwa 60 Konzerte gewesen sein unter seiner Leitung oder mit ihm als Sänger. Zu vielen Aufführungen gab es Radiomitschnitte, Fernsehproduktionen oder CDs.

E:
Gibt es neben dem frühen Bandonionstück „Pandorasbox”, „Aus Zungen Stimmen”, „Tango alemán” und „Variete”, sowie dem neuesten Werk, auf das wir noch kommen, vielleicht noch Unveröffentlichtes von Kagel?

A:
Gerade habe ich mit Kagel die letzten Korrekturen von vier Stücken aus dem „Rrrrrrr......”-Zyklus für Orgel in einer Akkordeonversion abgeschlossen, die bei Peters erscheinen soll. Außerdem gibt es bei der Universal-Edition „Ungius incarnatus est”, das für Klavier und beliebig tiefes Instrument ausführbar ist, also auch für Akkordeon.

E:
Eine Kritikerin beschrieb im Zusammenhang mit der Auffuhrung von „Aus Zungen Stimmen” Kagels Schaffen so: „Das Werk sei ”echter Kagel, also hochgescheit, in ein reiches traditionelles Bezugssystem gestellt, z.T, durch Verfremdung und Umorientierung überkommenner Mittel wirksam”, es mache betroffen und rege zum Nachdenken an. „Das zeigt sich nicht zuletzt an den ´unfeinen´ Instrumenten wie Zither und Akkordeon, die Kagel offenbar mit guten Chancen - in den ´verkrusteten professionellen Musikbetrieb´ einzugliedern versucht.

Was meinen Sie zu dieser Aussage?

A:
Die Kritikerin beschreibt zu Recht einen außerordentlich wichtigen Punkt in Kagels Arbeit, nämlich das Publikum unentwegt zu reizen, um die Wahrnehmung zu erweitern und durch stetes Infragestellen von Gewohntem die Ohren zu spitzen

Unter diesem Gesichtspunkt muß man auch die Auswahl und Benutzung des Instrumentariums sehen. Es wäre jedoch falsch zu glauben, daß Kagel nur in diesem Sinne mit Instrumenten umgeht. Bei „Episoden- Figuren” ist gerade der umgekehrte Fall zutreffend. Es entstand nämlich mit der Imagination, als bestünde schon eine über 2OOjährige seriöse Akkordeon-Tradition und -Literatur, zugleich wohl wissend, daß noch bei vielen im traditionell-professionellen Musikbetrieb Vorurteile existieren.

Zur anderen Bemerkung betreffend der Eingliederung glaube ich, daß das Akkordeon genauso wie die überlieferten Instrumente aus der Tradition der Kunstmusik eine ähnlich vollkommene Kontrolle der musikalischen Parameter, wie Frequenzen, Ein- und Ausschwingvorgänge, vielfältige Artikulation usw. erlaubt und somit den Anforderungen einer großen und komplexen Musiksprache absolut entspricht. Betrachtet man zudem, daß groBe wie kleine Musikfestivals, oder Konzertreihen nach neuen Ideen und Konzepten suchen, daß darin Neue Musik immer mehr Eingang, Gewicht und Zustimmung findet, so hat das Akkordeon im professionellen Musikbetrieb nicht nur gute Chancen, sondern es befindet sich dort schon mittendrin.

E:
Wenden wir uns jetzt einmal der gerade erwähnten Solokomposition Kagels zu, „Episoden- Figuren” die Sie 1994 bei den Wittener Tagen fur neue Kammermusik uraufgeführt haben. Wie kam es zu diesem Werk? Wie kam es zum Kompositionsauftrag des Landes Baden-Württemberg? Entstand die Komposition mehr im Dialog mit dem Komponisten oder war das meiste vom Komponisten festgelegt? Was können Sie uns über den Titel des Werkes sagen? Welche Bedeutung hat Ihrer Meinung nach die Komposition?

A:
Paradoxerweise bestand zu Beginn von „Episoden- Figuren” kein Auftrag, kein Uraufführungsort und auch keine Anfrage. Die Initialzündung geschah auf ungewöhnliche Weise. Wie schon erwähnt, lagen viele und auch äusserst erfolgreiche Konzerte hinter uns. Die Idee lag nahe, das Bandoneonstück „Pandorasbox” zu studieren und eine gültige Übertragung für Akkordeon anzufertigen. Kagel gab mir außer den Noten auch eine Aufnahme, bei der er selbst der Ausführende war, eine enorm beeindruckende Aufnahme von ungeheuer lasziver Emotionalität. Bald bernerkte ich, daß diese Intensität mit dem Akkordeon nicht realisierbar war. Zu viele Aktionen sind aus der Bewegung und dem Umgang mit dem Bandoneonbalg, der in zwei Richtungen bewegt wird, gedacht und konzipiert. Ein wesentlicher Teil der Bewegungstheatralik und der damit zusammenhängenden Psychologie und Komplexität würde verloren gehen und damit letztendlich die Magie des Stückes. Ich bat Kagel nun, es selbst zu versuchen und „Pandorasbox” speziell für Akkordeon zu rekomponieren. Doch auch er gab den Versuch bald auf. Da an Halbem und Mittelmäßigem nicht interessiert, ging er schon mit der Idee schwanger, etwas für Soloakkordeon zu schaffen. Nachdem er mir von dieser wunderbaren Absicht erzählte, kümmerte ich mich um einen Uraufführungsort und einen Auftrag.

Die Komposition entstand in mehreren Schüben, die jedesmal eine rege Korrespondenz auslösten und von insgesamt sechs intensiven Treffen begleitet waren. Und obwohl viel, und dies ziemlich genau, bereits vor den jeweilige Sitzungen in den Noten fixiert war, wurde ebensoviel im Dialog mit mir und meinem Akkordeon noch einmal verändert. Ein Hauptmerkmal dieser Zusammenkünfte war: Kagel wollte immer wieder hören! Praktisch jede Phrase wurde akribisch nach möglichen Verbesserungen hin untersucht. Aus einem zweistimmigen Satz wurde ein drei- oder gar vierstimmiger Satz, wie z.B. die Takte 32 bis 46 oder die Takte 62 bis 109. Aber auch minimale Veränderungen wurden lange diskutiert und immer wieder ausgehört: Tempo, Artikulation, Dynamik, Oktavlagen, Übergänge, Fermaten, Wiederholungen oder neue Teile wurden eingefügt usw. Auch unerwartete und verblüffende Überraschungen ergaben sich, über die wir uns besonders freuten.

Ursprünglich sollte das Stück „Pandorasbox, Accordionpiece” heißen, also fast genauso wie das Bandoneonstück aus dem Jahre 1960. Der Veranstalter der Uraufführung und ich wehrten uns dagegen, da es doch mit dem Bandoneonstück nichts mehr gemeinsam hatte und es vielleicht zu Mißdeutungen geführt hätte. „Episoden, Figuren” umreißt ziemlich genau die Architektur des Stückes und paßt somit auf die Musik wie angegossen.

Zweifellos markiert dieses Stück einen Höhepunkt in der Literatur. Für mich erhebt diese Komposition den Anspruch, notwendig zu sein, und ich möchte sie nicht mehr missen. Das Werk ist zeitlos und wird dadurch zum Bestandteil der Musiktradition, die es bereichert und das Akkordeon veredelt. Es ist eine Musik von unbeschreiblicher Innerlichkeit, ergreifender Schlichtheit und Tiefe. Die Virtuosität gleitet nie in banales Blendwerk ab, sondern ist immer von zündender Energie. Hinter jeder Note steht die aufrichtige Haltung einer starken und großen Persönlichkeit.

Akkordeonistisch betrachtet, erlaubt es dem Ausführenden eine reiche und vielfältige Ausdrucksmöglichkeit. Von der liebevollen Versenkung in einfache und schlichte Melodien über virtuos leicht flirrende Fortspinnungen bis zu extremem, schroffem Zupacken. Es fordert vom Interpreten aber immer eine beziehungsvolle Übersicht, wobei Richtpunkte einen ganzen Bezirk überschauen lassen, andernfalls droht, wie z.B. bei dem rhapsodischen Beginn, ein ratloses Hin und Her.

Es gibt übrigens von Kagel eine Beschreibung über die Zusammenarbeit und die Uraufführung. Einen Tag nach der Premiere rief er mich an, um sich nochmal zu bedanken, und er verglich unsere Arbeit mit zweien, die fanatisch minutiös bis zum letzten Moment an einem Molotow-Cocktail gebastelt haben und diesen im richtigen Augenblick zum Knallen gebracht haben.

E:
Wenn ich die Aussage Kagels im Begleitheft der CD von den Wittener Kammermusiktagen lese, dann habe ich nicht unbedingt den Eindruck, daß er das Akkordeon 'ernst' nimmt, denn da heißt es:
„Gleichgültig, ob man es liebt oder ablehnt: die Mischung aus Bauchorgel, Schoßharmonium und Kniemundharmonika bleibt einzigartig...
Man schmunzelt unfreiwillig, wenn man über das Akkordeon nachdenkt:” Wie sehen Sie das?

A:
Diese Formulierungen Kagels sind bei Veranstaltern und Kritikern die meistgeliebten und zitierten Sätze. Sie zeigen eine souveräne und humorvolle Haltung, die nicht gegen das Akkordeon gerichtet ist, sondern mehr mit den Vorurteilen gegenüber dem Akkordeon spielt. In der Öffentlichkeit wurde meines Wissens dieser Text immer als Liebeserklärung für das Akkordeon verstanden.

E:
Gleich zu Anfang der Komposition findet man einen fast typischen Kagelsatz in der Partitur: „Gelegentliches Mitsummen während des Spiels ist nicht unerwünscht.”

A:
Das Mitsummen ist noch ein Relikt aus der anfänglichen Beschäftigung mit „Pandorasbox”, wo das Mitsummen einen wichtigen Bestandteil der Komposition ausmacht. Beim Mitsummen in „Episoden, Figuren” kann allerdings die Gefahr bestehen, daß man es der Konzentration beraubt, deshalb Mitsummen nur gelegentlich und auch nicht unbedingt.

E:
Wie genau sind die Artikulationsanweisungen Kagels z.B. in den Takten 12/13 zu nehmen (Triolen im System der linken Hand)?

A:
Ein Wesensmerkmal bei Kagels Musik ist die Artikulation. In diesem Fall erfährt das Ostinato der linken Hand erst durch die Artikulation die zusätzliche Qualität der Rhetorik. Ein anderes Beispiel, wo die Artikulation hilft, eine Absicht zu pointieren, sind die Takte 202 bis 215. An dieser Stelle erreicht Kagel eine Klimax betreffend Gewichtung der Figuration. Ohne die gegen den Strich gebürstete Artikulation der linken Hand bestände die Gefahr, daß es zu glatt laufen könnte und die Schnelligkeit sich verflüchtigt und oberflächlich würde.

E:
Warum der ad.lib.-Sprung Seite 14 von Takt 247 zu 259?

A:
Die ad.lib.-Eintragungen geschahen kurz vor dem Ablieferungstermin an den Verlag. Da Kagel seine Stücke nie in Ruhe lassen und selbst noch lange nach der Uraufführung bei wiederholtem Hören weiter beschäftigen, hatte er hier nach einem Konzert im August in Salzburg - also einige Monate nach der Uraufführung - den Eindruck, daß zwischen Takt 24-28 eine Wiederholung gut wäre und auf Seite 14 aus formalen Gründen die Streichung von 11 Takten ebenfalls von Vorteil sein könnte. Die Entscheidung wollte er aber den Ausführenden überlassen, und so geschah der Eintrag ad.lib.

E:
Was soll gegen Ende der Satz bewirken: „Zuhörer mit weit geöffneten Augen bis Ende des Stückes anschauen... allmählich lächeln”?

A:
Kagel erzielt auf der letzten Seite mit dem Erreichen und Aushalten des hohen Akkords einen musikalisch quasi bedrohlich diabolischen Zustand. Diesem Spannungszustand fügt er nun völlig unverhofft ein heterogenes Element hinzu, nämlich das Lächeln zum Publikum, das konträr zum Zustand der Musik steht und den Spieß umzudrehen versucht. Durch diesen Widerspruch von Musik und Gestik entsteht eine vieldeutig bizarre Situation, die die Spannung auf die Spitze treibt.

E:
Wie wurde das Werk bei der Uraufführung aufgenommen?

A:
Die Uraufführung war ein außerordentlicher Publikumserfolg und wurde quer durch alle deutschen Feuilletons positiv besprochen.

E:
Woran arbeiten Sie zu Zeit? Zu welchen größeren Veranstaltungen in 1996 haben Sie bereits Auftrittszusagen gegeben?

A:
Gerade bereite ich für eine Konzert ein Bach-Boccherini-Programm vor, das ich mit einem Cellisten mache. Außerdem werde ich dieses Jahr beim Presences Festival in Paris von Radio France sein, im Concertgebouw in Amsterdam, dem Archipel Festival in Genf, Ars musica in Brüssel, bei den Tagen für neue Kammermusik in Witten, ich werde ein Akkordeonkonzert mit Streichorchester bei den Schwetzinger Festspielen uraufführen, ferner bin ich bei DeSingel in Antwerpen, bei den Festivals in Macerata und Sermoneta bei Rom, in Straßburg beim Musica Festival als Solist mit dem Radio-Sinfonieorchester des Südwestfunks, Berlin 300 jähriges Jubiläum der Akademie der Künste usw.

E:
Sie sind neben Ihrer umfangreichen konzertierenden Tätigkeit Akkordeondozent an der Hochschule in Biel. Wie gestalten Sie Ihre Arbeit dort mit den Studenten? Steht da auch die neue Musik im Vordergrund?

A:
In der pädagogischen Arbeit setze ich andere Schwerpunkte als in meiner konzertierenden Tätigkeit. Für einen angehenden Studenten ist es zunächst vernünftig, geeignete Musik aus früheren Epochen zu studieren, um damit ein ausgewogenes Handwerk zu erlangen und eine grundlegende musikalische Bildung zu erwerben. Außerdem spielt diese Musik in der späteren Arbeit in den Musikschulen u.U. sogar die Hauptrolle, so daß ein fundiertes Wissen notwendig ist. Im Laufe des Studiums nimmt die Beschäftigung mit originaler Musik zu. Die Diplom-Prüfung muß dann ohnehin zwischen alter und originaler Literatur ausgewogen sein. Bei der Auswahl der Übertragungen versuche ich semesterweise möglichst einen Schwerpunkt zu setzen, so daß die Studenten angeregt werden, sich auszutauschen und dadurch wichtige Interaktionen stattfinden. Solche Themenschwerpunkte waren in den letzten Semestern z.B. Frescobaldi - Froberger, die sechs Orgel- oder Clavier-Sonaten von C.P.E. Bach, frühe spanische Musik von Narvaez, Muderra und Cabezón, frühe Haydn-Sonaten, oder französische Clavecin-Musik, aber auch Satie gehörte dazu. Jeder kann diese frühe Musik auch im Unterricht bei Spezialisten für alte Musik erarbeiten, was oft zu sehr spannenden Fragen und Diskussionen führte, insbesondere in Klassenstunden.

E:
Herr Anzellotti, Sie haben den Lesern mit diesem Gespräch einen Eindruck von Ihrer Arbeit als Akkordeonist im heutigen Musikleben gegeben.
So mancher Leser hat seine Schwierigkeiten mit neuer Musik, besonders beim Anhören neuester Stücke, bei denen man sich noch nicht einmal durch Einblick in die Noten ein 'Bild' machen kann, weil noch gar keine Partitur greifbar ist. Was raten Sie zum Abschluß unseres Gesprächs dem Hörer, für den beim ersten Anhören noch nicht zu erkennen ist, was den Komponisten bewegte? Nicht immer gibt es eine Aussage zu dem Werk, oder man kann sich, wie hier durch Sie, dem Werk nähern.

A:
Es ist, glaube ich, nicht unbedingt notwendig, Kommentare, Analysen usf. zu kennen. Oft habe ich erlebt, daß dies auch einschüchternd oder verengend auf das Hören wirkte. Dem unerfahrenen Zuhörer empfehle ich ein offenes Hören, ähnlich dem kindlichen puren Hören, ohne das Gehörte mit bekannten ästhetischen Systemen und Mustern zu vergleichen, abzuwägen, oder es gar dechiffrieren zu wollen. Mit dieser Haltung werden von vornherein Trugschlüsse vermieden und das Hören erleichtert.
Von John Cage gibt es zu diesem Thema des freien und wachen Hörens einen wunderbaren Ausspruch: „Happy new ears”.

   
 
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