Frank Hilberg - Zeit zum Hören
   
  Neue Akkordeonklänge
   
 

Von der Persona infamis zur Muse der Komponisten, wahrscheinlich gibt es kein Instrument, das so rasch aus den Niederungen tiefer Verachtung aufgestiegen ist wie das Akkordeon in der Neuen Musik der letzten zehn Jahre. Lange Zeit taugte es nur für Pseudofolklore und Sentimentalität. Bis die Komponisten seine innere Schönheit entdeckten, es dem Aschenputteldasein entrissen und seine Klänge in wundervolle neue Stücke verwandelten.

Der italienische Akkordeonist Teadoro Anzellotti ist an dieser märchenhaften Entwicklung nicht ganz unschuldig. Er war einer der Ersten, der das Instrument als Quelle neuer Klänge entdeckte, als er die „Knieorgel” jenseits des „Normalgebrauchs” anfasste und vielleicht zum eigenen Erstaunen die vielfältigen Möglichkeiten zu Zärtlichkeit und Innerlichkeit erkannte. Er besuchte Komponisten, demonstrierte ihnen die ungeahnten instrumentalen Möglichkeiten des Akkordeons und regte sie an, Stücke für ihn zu schreiben, die seinen virtuosen technischen Fähigkeiten und seinem Klangempfinden entsprachen. Fünf neuere Kompositionen hat er jetzt zu einer CD- Produktion zusammengestellt (Push Pull, hat (now) Art 131, Vertrieb: Helikon), die das neue Repertoire des Instruments exemplarisch zeigt.

Die Koreanerin Younghi Pagh-Paan setzt das Akkordeon in Ne Ma-Um (1998) als Erzähler in eigener Sache ein, um das Gedicht Mein Herz von H. C. Artmann weit ausgreifend in Musik zu verwandeln. In ruhigem Fluss mändern die Klänge um die Verszeilen und musikalisieren die „Selbstbeschreibung eines lyrischen Ichs, das versucht, die Rätsel seines Herzens in Worte zu fassen” (Birgit Gotzes). Das titelgebende Stück von Rolf Riehm - Push Pull (1995) - offenbart eine ungeheure Klangvielfalt in stufenloser Abschattierung. Verblüffend, wie viele scheinbar unabhängige Klangschichten sich mit dem Akkordeon gleichzeitig aufbauen lassen. Klangpolyphonie durch „Ziehen und Drücken”.

Das Stück Vagabonde blu (1998) des Sizilaners Salvatore Sciarrinos führt vor, wie kalte, klappernde Mechanik menschliche Züge annimmt, wenn der faltige Balg nur achtsam geführt wird, um den Atem zu rühren, der den Zungen Schwingung und damit Klang gibt. Wie kann etwas schwermütig und heiter, selbstvergessen und wachsam zugleich sein? In der Musik ist die Überwindung der Schwerkraft (und anderer Paradoxien) leichter als in anderen Künsten, wenn nur die schwebende Balance zwischen Einatmen und Ausatmen gelingt.

   
 
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